Sonntag, 11. Juni 2017

Kindheit im Weiler

Oxford

Oxford war nur 19 Meilen entfernt. Die Kinder aus dem Endhaus wussten das, denn als sie klein waren, hatte ihre Mutter sie oft zu einem Spaziergang zur Landstraße mitgenommen, und sie gingen niemals an dem Meilenstein vorbei, ohne dass ihnen die Inschrift vorgelesen worden wäre: Oxford XIX Meilen.

Sie fragten sich oft, wie es in Oxford sei, und fragten auch andere danach. Eine Antwort war, es sei eine ganz große Stadt, wo ein Mann 25 Schilling in der Woche verdienen könne, aber da er beinahe die Hälfte davon für die Hausmiete zahlen müsse und nirgendwo ein Schwein halten und viel Gemüse anbauen könne, wäre er ein Narr, wenn er dorthin ginge.

Ein Mädchen, das wirklich einmal zu Besuch dort gewesen war, sagte, man könne dort eine große rosa-weiße Zuckerstange für einen Penny kaufen und einer der Mieter ihrer Tante habe ihr fürs Schuheputzen einen ganzen Schilling gegeben.

Ihre Mutter sagte den Kindern, Oxford werde City genannt, weil dort ein Bischof lebe, und dass dort jährlich ein großer Jahrmarkt gehalten werde, und das schien alles zu sein, was sie darüber wusste. Ihren Vater fragten sie nicht, obwohl er als Kind dort gelebt hatte, als seine Eltern dort ein Hotel in der Innenstadt betrieben hatten. (Seine Verwandten sprachen von Hotel, doch ihre Mutter nannte es einmal "Krug", es war also wahrscheinlich eine normale Gastwirtschaft). Sie mussten schon aufpassen, dass sie ihrem Vater nicht zu viele Fragen stellten, und als ihre Mutter sagte: "Euer Vater hat sich wieder geärgert", fanden sie es besser gar nicht mehr davon zu sprechen.

So war Oxford für sie einige Zeit ein Schemen von Bischöfen (sie hatten ein Bild von einem Bischof, der mit weiten weißen Ärmeln auf einem Stuhl mit hoher Rückenlehne saß, gesehen), von Schaukeln, Schaubuden und Kokosraspel (denn, was ein Jahrmarkt war, wussten sie) und kleinen Mädchen, die rosa-weiße Zuckerstangen lutschten und Schuhe putzten. Aber sich einen Ort ohne Schweineställe und Gemüsegärten vorzustellen, war weit schwieriger. Ohne Speck und Kohl, was sollten die Leute dann essen?

Doch die Straße nach Oxford mit dem Meilenstein kannten sie, so lange sie lebten. Sie pflegten in dem Weiler herum und die schmale Dorfstraße entlang zu gehen, bis sie an die Kurve kamen. Ihre Mutter schob den Kinderwagen (Das Wort "Pram" [die Kurzform von perambulator] gab es noch nicht) mit Edmund, der in dem hohen Sitz, aus dem man leicht herausfallen konnte, angeschnallt war, oder später mit der kleinen May, die geboren wurde, als Edmund fünf war, und Laura hielt sich an der einen Seite fest oder lief hin und her, um Blumen zu pflücken. [...]

Obwohl es die Hauptstraße war, gab es dort kaum Verkehr, denn die Marktstadt lag in entgegengesetzter Richtung, das nächste Dorf lag in fünf Meilen Entfernung, und mit Oxford gab es aus so großer Entfernung in diesen Tagen der Pferdewagen keinen Verkehrsaustausch über die Straße [...] Zu dieser Zeit war sie ganz verlassen. In drei Meilen Entfernung donnerten die Züge über eine Eisenbahnbücke, in denen die fuhren, die - hätten sie einige Jahre früher oder später gelebt - die Straße benutzt hätten. Die Leute sagten, es werde viel zu viel Geld für Straßenindstandhaltung ausgegeben, denn deren Zeit sei vorüber, sie würde nur noch für Leute gebraucht, die von einem Dorf zum anderen wollten. [...]

Die weißen Schwänzchen der Kaninchen schauten ab und zu aus den Hecken hervor, Kröten liefen kurz vor den Füßen der Kinder über die Straße - schnelle, lautlose, heimliche Geschöpfe, die die Kinder schaudern machten; in den Eichen waren Eichhörnchen, und einmal sahen sie sogar einen Fuchs, der sich im Straßengraben unter dichtem überhängenden Efeu zum Schlafen zusammengerollt hatte. Gruppen von kleinen blauen Schmetterlingen huschten hier und da oder schwebten mit zitternden Flügeln an den langen Grashängen; Bienen summten in den weißen Kleeblüten, und über allem lag eine tiefe Stille. Es schien, als wäre die Straße in Vorzeiten gebaut und dann vergessen worden.
Die Kinder durften frei auf dem Grasstreifen am Rand herumlaufen, der an einigen Stellen so breit wie eine kleine Wiese war. "Bleibt auf dem Rassn!" pflegte ihre Mutter zu rufen. "Geht nicht auf die Straße. Bleibt auf dem Rassn!" Und es dauerte viele Jahre, bis Laura merkte, dass der Ausdruck, der dort allgemein für den Randstreifen gebräuchlich war, eine Verkürzung des inzwischen ungebräuchlichen Wortes Rasen war. [Im Englischen ist greensward das altertümliche Wort und grinsard die Verkürzung.]
Für Laura war es keine Zumutung, auf dem Rasen bleiben zu sollen, denn dort blühten Blumen, die im Weiler nicht zu finden waren, Augentrost, die rundblättrige Glockenblume, die abendrotfarbenen Flecken von Fingerhut und Wegwarte mit den leuchtend blauen Blüten und den drahtigen Stielen. [...]


Die Tante

Als sie noch klein waren, gingen Edmund und Laura einmal mit einer Tante, die zu Besuch war,  beide in frisch gewaschener, weißer, gestärkter Kleidung und hielten brav die Hand der Tante. Die Kinder waren ein bisschen schüchtern, denn sie konnten sich nicht erinnern, diese Tante schon einmal gesehen zu haben. Sie war mit einem Baumeister aus Yorkshire verheiratet und besuchte ihren Bruder und seine Familie nur in langen Zeitabständen. Aber sie hatten sie gern, auch wenn Laura schon gemerkt hatte, dass ihre Mutter sie nicht mochte. Jane war ihr zu modisch und 'aufgemacht', sagte sie. An dem Tag trug sie noch ihre Reisekleidung, da ihr Koffer noch auf der Bahnstation war. Es war ein langer taubenblauer Faltenrock mit einer Schürze rundherum, die über eine Turnüre im Rücken gepufft war, und trug eine kleine Haube, die ganz aus lila Samtstiefmütterchen bestand. 
Sch, sch, sch machte ihr langer Rock auf dem Gras. Aber immer wenn sie die Straße überquerten, ließ sie Lauras Hand los, um den Rock zu schürzen, und ließ den erfreuten Blick des Kindes auf diese Weise einen gerüschten lila Petticoat sehen. Wenn sie erwachsen wäre, würde sie einen Rock und einen Petticoat genau wie den tragen, beschloss Laura. 
Edmund war freilich nicht an Kleidern interessiert. Da er ein höflicher kleiner Junge war, bemühte er sich um Unterhaltung. Er hatte der Tante schon die Stelle gezeigt, wo sie den toten Igel gefunden hatten, und den Busch, wo die Drossel im letzten Frühling genistet hatte, und ihr erzählt, dass das entfernte Grollen, das sie hörten, von dem Zug her kam, der über das Viadukt fuhr, als sie schließlich an den Meilenstein kamen. 
"Tante Jenny", fragte er, "wie ist Oxford?"
"Nun, das sind alles alte Häuser, Kirchen und Colleges, wohin die Söhne reicher Leute in die Schule gehen, wenn sie erwachsen sind."
"Was lernen sie da?" wollte Laura wissen.
"Oh, Latein und Griechisch und sowas, nehme ich an."
"Gehen alle dahin?" fragte Edmund ganz ernsthaft.
"Nein, nein. Manche gehen nach Cambridge, da gibt es auch Colleges. Einige gehen zu den einen, die anderen zu den anderen", sagte die Tante mit einem Lächeln, das sagte: "Was werden diese Kinder jetzt noch wissen wollen?"
Der vierjährige Edmund aber dachte etwas nach und fragte dann: "In was für ein College werde ich gehen, wenn ich erwachsen bin, Oxford oder Cambridge?" Und sein Ausdruck von unschuldigem guten Glauben hinderte die Tante daran, zu lachen.
"Für dich wird's kein College geben, mein armer kleiner Mann", erklärte sie. "Du wirst zur Arbeit gehen müssen, sobald du mit der Schule fertig bist. Aber wenn es nach mir ginge, würdest du zum besten College in Oxford gehen." Und für den Rest des Spazierganges unterhielt sie sie mit Geschichten aus der Familie ihrer Mutter, den Wallingtons. 
Sie sagte, einer ihrer Onkel habe ein Buch geschrieben, und sie meinte, Edmund könne einmal sehr klug werden wie dieser Onkel. 
Aber als sie der Mutter erzählten, was die Tante gesagt hatte, schüttelte die den Kopf und meinte, sie habe nie von einem Buch gehört, und wenn er eines geschrieben hätte, so sei es eine Zeitverschwendung. Er war schließlich nicht jemand wie Shakespeare oder Miss Braddon oder so. Und sie hoffe, Edmund werde einmal nicht klug werden. Zuviel im Kopf sei nicht gut für einen Arbeiter, das mache nur unzufrieden und unverschämt, so dass man die Arbeit verliere. Sie hatte es immer wieder passieren sehen.


Die Mutter und die Tasse

Dabei war sie selbst recht klug und hatte eine Ausbildung genossen, die deutlich über dem lag, was in ihrem Stand üblich war. Sie war in einem Cottage geboren und aufgewachsen, das am Kirchhof eines benachbarten Dorfes stand. "gerade wie das Mädchen in Wir sind sieben", pflegte sie ihren Kindern zu erzählen. Damals, als sie ein kleines Mädchen im Kirchhofscottage war, war der Pfarrer der Gemeinde ein alter Mann gewesen, und er hatte mit seiner noch älteren Schwester zusammen gelebt. Diese Dame, Miss Love, hatte das blonde kleine Mädchen aus dem Kirchhofscottage sehr lieb gewonnen und ließ sie täglich nach der Schule ins Pfarrhaus kommen. Die kleine Emma hatte eine schöne Stimme und sollte dort Gesangsunterricht nehmen. Aber sie lernte da auch anderes, alte Bräuche und eine schöne alte Handschrift mit spitzen Buchstaben, offenen Bögen und langem Doppel-s, so wie ihre Schreiblehrerin es am Ende des 18. Jahrhunderts gelernt hatte.
Miss Love war damals knapp 80 Jahre und war schon lange tot, als Laura mit zweieinhalb Jahren von ihrer Mutter mitgenommen wurde, um den damals hochbetagten Pfarrer zu besuchen. Dieser Besuch gehörte zu ihren frühsten Erinnerungen und blieb erhalten als ein undeutlicher silhouettenhafter Eindruck vor dem Fenster und etwas präziser ein paar zitternde Hände mit hervortretenden Venen, die ihr etwas Glattes, Kaltes und Rundes in die Hände legten. Dies Glatte, Kalte, Runde blieb ihr als Eindruck für später erhalten. Der alte Herr hatte ihr damals wohl eine Porzellantasse gegeben, die aus den Kindheitszeiten seiner Schwester stammte. Sie hat dann jahrelang auf einem Sims im Endhaus gestanden. Ein wundervolles altes Stück mit einem Muster von grünem Blätterwerk vor durchscheinendem Weiß. Später zerbrach sie, was in dem sorgfältigen Haushalt ungewöhnlich war. Aber Laura behielt das Muster für den Rest ihres Lebens in Erinnerung und fragte sich manchmal, ob ihre lebenslange Vorliebe für die Verbindung von grün und weiß von daher stammte.
Ihre Mutter erzählte ihnen oft von dem Pfarrhaus und ihrem eigenen Haus am Kirchhof und davon, wie die Mitglieder des Kammerorchesters, in dem ihr Vater die Violine spielte, bei ihnen im Haus übten. Aber mehr noch liebte sie es, von dem Pfarrhaus zu erzählen, wo sie die Kinder betreut hatte. Das Einkommen des Pfarrers war bescheiden, aber er konnte sich drei Angestellte leisten: eine Köchin, eine Haushaltshilfe und als Kindermädchen Emma. Sie waren wirklich nötig in dem weitläufigen alten Haus, in dem der Pfarrer mit seiner Frau, ihren neun Kindern, drei Hausangestellten und oft drei, vier männlichen Schülern lebten. Sie alle hatten dort fröhliche, glückliche Tage, erzählte sie. Alle, die Familie, die Hausangestellten und die Schüler saßen am Abend im Wohnzimmer und sangen Rundgesänge oder mehrstimmige Lieder. Aber was Laura am meisten faszinierte, war, dass sie beinahe überhaupt nicht geboren worden wäre.  Denn einige Verwandte der Familie, die nach Neusüdwales in Australien ausgewandert waren, waren für einen Besuch nach England gekommen und hätten das Kindermädchen beinah überredet, mit ihnen nach Australien zu gehen. Ja, es war schon beschlossene Sache, als sie eines Abends von Schlangen zu erzählen anfingen, die nach ihrer Darstellung den Bungalow und ihren Garten besiedelt hätten. "Dann", sagte Emma, "werde ich nicht dorthin gehen, denn ich kann solche schrecklichen Kreaturen nicht ertragen."
Und sie ging in der Tat nicht, sondern heiratete stattdessen und wurde die Mutter von Edmund und Laura. Aber es scheint, dass der Ruf ein echter war und dass Australien für ihre Nachkommen etwas hatte oder etwas von ihnen brauchte; denn von der nächsten Generation ging Emmas zweiter Sohn als Obstbauer nach Queensland und von der darauf folgenden ist ein Sohn von Laura jetzt Ingenieur in Brisbane.
Die kleinen Johnstones wurden den Kindern des Endhauses immer als Beispiel vorgehalten. Sie waren immer freundlich zueinander und gehorchten ihren Eltern, waren nie wüst oder wild oder ungezogen.
Vielleicht ließen sie nach, als die Kinderschwester Emma ging, denn Laura erinnert sich, dass sie mitgenommen wurde, um sie kennen zu lernen, bevor sie auf Dauer aus der Nachbarschaft wegzogen, und dass einer der großen Jungen sie an den haaren zog, ihr Fratzen schnitt und ihre Puppe unter einem Baum im Obstgarten begrub, mit einer Schürze der Köchin als eine Art Chorhemd un den Hals geschlungen.
Die älteste Tochter, Fräulein Lily, damals 19 Jahre, ging meilenweit den Weg zusammen mit ihnen zu ihrem Haus und kehrte dann allein in der Dämmerung nach Hause zurück. (Die viktorianischen Damen wurden also nicht immer so sorgfältig beaufsichtigt, wie es heute angenommen wird!)


Laura erinnert sich an das leise Murmeln der Unterhaltung hinter ihr, als sie vorn im Kinderwagen sitzend, mit den Beinen über dem Vorderrad baumelnd, nach Hause gefahren wurde. 
Anscheinend schenkten zwei Herren, ein Sir George und ein Mister Looker Fräulein Lily zu der Zeit ihre besondere Aufmerksamkeit. Und ihre jeweiligen Vorzüge wurden besprochen. Und immer wieder einmal protestierte Fräulein Lily: "Aber Emma, Sir George schenkte mir wirklich besondere Aufmerksamkeit. Viele haben das Mama gesagt." Und Emma sagte darauf: "Aber liebes Fräulein Lily, meinen Sie wirklich, er meint das ernst?" Vielleicht tat er das, denn Fräulein Lily war wirklich ein attraktives Mädchen, aber sie war eine Frau Looker, als sie eine Art Feenpatin der Endhausfamilie wurde. Regelmäßig kamen von ihr Weihnachtspäckchen mit Büchern und Spielzeug, und obwohl sie ihr altes Kindermädchen nie wieder sah, schrieben sie sich noch bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts.

Um die Cottages des Weilers herum spielten viele Kinder, die zu jung waren, um in die Schule zu gehen. Jeden Morgen wurden sie in einen alten Schal eingebunden, der sich auf der Brust kreuzte und auf dem Rücken mit einem festen Knoten verschnürt war. Sie bekamen etwas zu essen in die Hand und kriegten gesagt, sie sollten "spielen gehen", während ihre Mütter an ihre Hausarbeit gingen.
Im Winter wurden die kleinen Körperchen blau vor Kälte, sie stampften dann mit den Füßen und spielten Pferde und Eisenbahn. Im Sommer formeten sie aus Sand kleine Kuchen, die sie mit ihrem höchst eigenen Wasservorrat befeuchteten. Wenn sie hinfielen oder sich irgendwie anders verletzten, rannten sie nicht nach Hause, um sich trösten zu lassen, denn sie wussten, dass sie nichts anderes hören würden als "Geschieht dir recht. Du hättest aufpassen sollen, wo du hintrittst.!"
Sie waren wie kleine Fohlen, die auf die Weide geschickt werden und erhielten etwa genauso viel Aufmerksamkeit. Sie hatten vielleicht - und das kam oft vor - laufende Nasen und Frostbeulen an Händen, Füßen und Ohren, aber sie waren fst nie so krank, dass sie drinnen bleiben mussten, und wurden widerstandsfähig und stark; so muss die Behandlung für sie richtig gewesen sein. 'Macht sie stärker', sagten ihre Mütter, und stärker wurden sie in der Tat, so stark, wie auch die Männer und Frauen und die Jugendlichen des Weilers stark waren, an Körper und Geist.
Manchmal spielten Laura und Edmund mit den anderen Kindern. Ihr Vater sah das nicht so gern; er sagte, sie seien schon richtige kleine Wilde. Aber ihre Mutter hielt daran fest, dass sie sich besser rechtzeitig auf die Verhaltensweisen im Ort einstellen sollten, denn zur Schule müssten sie ohnehin bald gehen. 'Außerdem', meinte sie, 'warum auch nicht? Was ist denn schon schlimm an den Leuten von Lark Rise, außer der Armut. Und Armut ist kein Verbrechen. Wenn es das wäre, müssten auch wir selbst geköpft werden.'
So gingen die Kinder raus zum Spielen und hatten oft glückliche Stunden: Sie legten Grundrisse von Häusern mit Tonscherben an und möblierten sie mit Moos und Steinen. Oder sie lagen auf dem Bauch im Staub, um in die tiefen Risse zu schauen, die die Trockenheit immer in dem schweren Boden erzeugte. Oder sie bauten Schneemänner oder schlitterten im Winter auf den Pfützen.
Zu anderen Zeiten war es nicht so angenehm. Denn da gab es Streit und reichlich Püffe und Schläge. Und wie die kleinen Fäuste von Zweijährigen zuschlagen konnten! Zu sagen, ein Kind sei so breit wie lang, galt bei den Müttern im Ort als ein Kompliment. Und einige dieser Kleinkinder waren in ihrer geschnürten wollenen Verpackung so quadratisch, wie Menschen überhaupt nur sein können.
Ein Mädchen, Rosie Phillips, faszinierte Laura. Sie war dick und kräftig und so rotbäckig wie ein Apfel, mit tiefen Grübchen und Haaren wie Kupferdraht. Wie hart die anderen Kinder sie auch beim Spielen stießen, sie stand fest wie ein Felsen. Sie konnte ihrerseits kräftig zuschlagen und mit ihren spitzen weißen Zähnen ordentlich zubeißen.
Die beiden zahmeren Kinder gingen aus den Kämpfen stets als Verlierer hervor. Dann liefen sie auf ihren langen, staksigen Beiden zu ihrem eigenen Gartentor, gefolgt von Steinen und Rufen wie 'Langbein! Feiger, feiger Wackelpudding!'.
In diesen Jahren wurden im Endhaus immer wieder Pläne geschmiedet. Edmund musste ein gutes Handwerk lernen. Vielleicht Schreiner. Denn wenn ein Mann ein gutes Handwerk beherrschte, dann war sein Unterhalt gesichert. Laura könnte Lehrerin werden, oder wenn das nicht möglich war, Kindermädchen in einer guten Familie. Aber zuerst und vor allem musste die Familie von Lark Rise in die Stadt ziehen. Die Eltern hatten immer schon umziehen wollen. Als der Vater seine Frau traf und sie heiratete, war er fremd in der Gegend und arbeitete für ein paar Monate an der Renovierung der Kirche einer benachbarten Gemeinde. Und das Endhaus war als Unterkunft auf Zeit genommen worden. Dann kamen die Kinder und allerlei verzögerte den Umzug.
Sie konnten nicht vor Michaelis kündigen oder ein neues Kind kündigte sich an oder sie mussten warten, bis das Schwein geschlachtet war, oder es war Erntezeit. Immer gab es einen Verzögerungsgrund, und nach sieben Jahren waren sie immer noch im Endhaus, und immer noch redeten sie fast täglich über den Umzug. Fünfzig Jahre darauf war der Vater gestorben und die Mutter lebte allein dort.

Lesen Lernen

Als Laura ins Schulalter kam, wurden die Diskussionen dringlicher. Ihr Vater wollte nicht, dass seine Kinder mit den Kindern des Ortes in dieselbe Schule gingen, und diesmal stimmte die Mutter ihm zu. Nicht deshalb, weil sie eine bessere Ausbildung bekommen sollten, als sie sie in Lark Rise erhalten konnten, wie er sagte, sondern weil sie fürchtete, dass ihre Kleidung beschädigt würde oder dass sie auf dem anderthalb Meilen langen Weg ins Schuldorf sich erkälten und schmutzig machen würden.
So wurden leer stehende Cottages in der Marktstadt besichtigt, und oft schien es, als würden sie nächste Woche oder nächsten Monat auf Dauer aus Lark Rise fort ziehen. Aber es passierte immer wieder etwas, was den Umzug verhinderte, und langsam entwickelte sich ein anderer Plan. Um Zeit zu gewinnen, würde der Vater die ältesten beiden Kinder im Lesen und Schreiben unterrichten, so dass, wenn das Schulamt anfragte, ihre Mutter sagen könnte, sie würden bald umziehen und in der Zwischenzeit zu Hause unterrichtet.
So brachte der Vater zwei Exemplare von Mavors Fibel mit und lehrte sie die Buchstaben. Doch gerade als Laura mit den einsilbigen Wörtern anfing, musste er zu einer entfernteren Arbeitsstelle und kam nur am Wochenende nach Hause. Laura, die noch auf dem Stande von M-a-m-a r-u-f-t war, musste also mit ihrem Buch der Mutter bei der Hausarbeit hinterherlaufen und sie fragen: "Mama, wie buchstabiert man 'schläft'?" Oder: "Was bedeutet 'spazieren'?" Wenn ihre Mutter zu beschäftigt oder zu verärgert war, ihr zu helfen, saß sie dann oft und starrte auf die Seite, die genauso gut auf Hebräisch hätte gedruckt sein können, denn alles, was sie machen konnte, war, die Stirn runzeln und grübeln, als ob sie die Bedeutung der Wörter durch bloße Konzentration herausquetschen könnte.


Nach Wochen, wo es so lief, kam dann der Tag, wo sie auf einmal den Eindruck bekam, dass die gedruckten Wörter eine Bedeutung bekämen. Nun gab es selbst auf den ersten Seiten der Fibel immer noch einige Wörter, die sie nicht entziffern konnte, aber sie konnte die übergehen und doch das Ganze verstehen. "Ich kann lesen, ich kann lesen!" rief sie laut, "Edmund, Mama, ich kann lesen!"


Im Haus gab es nicht viele Bücher, obwohl die Familie in dieser Hinsicht besser dran war als ihre Nachbarn; denn außer den fast unlesbaren Büchern des Vaters und Mutters Bibel und Pilgrim's Progress gab es einige Kinderbücher, die die Johnstones zurückgelassen hatten, als sie umzogen. So konnte Laura bald Grimms Märchen, Gullivers Reisen, Die Gänseblümchenkette und von Frau Molesworth Die Kuckucksuhr und Möhren lesen.

Da sie selten ohne ein offenes Buch in der Hand gesehen wurde, dauerte es nicht lange, bis die Nachbarn wussten, dass sie lesen konnte. Sie billigten das durchaus nicht. Keins ihrer Kinder hatte lesen gelernt, bevor es zur Schule gegangen war, und dann hatten sie nur unter Zwang gelernt, und deshalb dachten sie, dass Laura durch ihr frühes Lernen ihren Kindern etwas weggenommen hätte. So machten sie, da passenderweise Lauras Vater nicht zu Hause war ihrer Mutter Vorwürfe. "Es ist nicht seine Sache, das Kind selbst zu unterrichten", sagten sie. "Unterricht hat in den Schulen stattzufinden Und wahrscheinlich wird man ihm Unrecht geben, wenn die Behörde herausfindet, was er getan hat." Andere, die freundlicher eingestellt waren, meinten, Laura gefährde ihre Augen, und drängten ihre Mutter, sie solle dem Lesen ihrer Tochter ein Ende machen. Aber sobald man ein Buch vor Laura versteckte, fand sie ein anderes, denn alles Gedruckte zog ihre Augen an wie ein Magnet das Eisen.
Edmund konnte nicht ganz so früh lesen; aber als er es tat, lernte er gründlicher. Er überging kein unbekanntes Wort und beschränkte sich nicht darauf, aus dem Kontext zu erschließen, was es wohl heißen könnte; er bewältigte jede Seite, bevor er umblätterte, und seine Mutter war bei seinen Fragen geduldiger, denn Edmund war ihr Liebling.
Wenn die zwei Kinder so hätten weitermachen können, wie sie begonnen hatten, und Zugang zu Büchern gehabt hätten, die ihren Fortschritten angemessen waren, dann hätten sie wahrscheinlich mehr gelernt als in ihren kurzen Schultagen. Aber diese glückliche Zeit der Entdeckungen währte nicht lange. Eine Frau, deren Kind häufig nicht in die Schule ging und zu der deshalb der für den Schulbesuch verantwortliche Beamte kam, berichtete ihm über den Skandal im Endhaus. Und er kam zu Lauras Mutter und drohte alle möglichen Arten von Strafen an, wenn Laura nicht am nächsten Montag um neun Uhr morgen in der Schule sei.
So wurde es nichts mit Oxford oder Cambridge mit Edmund. Beide Kinder hatten die staatliche Schule zu besuchen. Sie mussten wie Hühner, die Körner aufpicken, das bisschen, was es zu lernen gab, aufpicken, wo sie es konnten - etwas in der Schule, mehr in Büchern und einiges, indem sie auf die Vorräte anderer zurückgriffen.
Wenn sie später einmal etwas über Kinder lasen, deren Schicksal anders war als ihr eigenes, über Kinder, in deren Kinderzimmer Schaukelpferde standen und die zu Kinderpartys gingen und zum Strandurlaub und ermutigt und gelobt wurden für das, was bei ihnen als seltsam und unpassend galt, dann fragten sie sich schon einmal, warum gerade sie an einem so wenig vielversprechenden Fleck geboren waren wie Lark Rise.


So war es im Haus. Draußen gab es viel zu sehen, zu hören und zu lernen, denn die Bewohner des Weilers waren interessant und fast jeder von ihnen in einer anderen Art. Laura fand die alten Leute am interessantesten. Denn sie erzählten ihr von den alten Zeiten und konnten alte Lieder singen und sich an alte Bräuche erinnern, auch wenn ihr nie genug war, was sie zu berichten hatten.

Manchmal wünschte sie, sie könnte Erde und Steine sprechen lassen, damit sie ihr über all die verstorbenen Personen berichten könnten, die einst über sie hingegangen waren. Sie liebte es, Steine aller Formen und Farben zu sammeln, und über Jahre hin spielte sie mit dem Gedanken, eines Tages könne sie eine verborgene Feder drücken und ein Stein würde aufspringen und ein Pergament freigeben, das ihr genau berichten würde, wie die Welt war, als es geschrieben und in den Stein getan wurde.

Es gab keine gekauften Freuden, und wenn es welche gegeben hätte, so wäre kein Geld da gewesen, um dafür zu bezahlen. Aber es gab die Bilder, die Geräusche und die Gerüche der verschiedenen Jahreszeiten: Der Frühling mit seinen Feldern von jungen Weizenhalmen, die im Winde schwankten, wenn ein Wolkenschatten über sie hin ging. Der Sommer mit dem reifenden Korn, seinen Blumen, Früchten und Gewittern. Und wie der Donner über das flache Land rollte und krachte, Und was für brodelnde, prasselnde Wolkenbrüche er brachte!
Mit  August kam die Ernte, und die Felder bereiteten sich zur langen Winterruhe, wenn der Schnee sich oft  türmte und fror, sodass man über die begrabenen Hecken hinweg gehen konnte, und wo ungewohnte Vögel auf der Suche nach Krümeln vor die Türen der Cottages kamen und die Hasen auf der Suche nach Futter ihre Spuren um den Schweinestall herum hinterließen.

Kinder vom Endhaus
Die Kinder vom Endhaus hatten ihr eigenes, sehr persönliches Vergnügen, etwa das, eine Gruppe weißer Veilchen zu bewachen, die sie in einem Spalt am Ufer des Baches gefunden hatten und die sie ihr "heiliges Geheimnis" nannten. Oder ihre Vorstellung, die Skabiosen, die dort im Überfluss blühten, wären - wie ein Regenschauer - vom sommerlichen Himmel gefallen, denn es war genau dasselbe matte, träumerische Blau.
Ein anderes Lieblingsspiel war es, leise Vögel anzuschleichen, die sich auf einem Geländer oder einem Zweig niedergelassen hatten und zu versuchen, ihren Schwanz zu berühren. Laura hatte einmal Erfolg damit, aber weil sie dabei allein gewesen war, glaubte ihr niemand, dass es ihr wirklich gelungen war.
Wenig später stellten sie sich in Gedanken an den Ursprung des Menschen gemäss dem Bibelwort "Staub bist du und zu Staub sollst du werden" vor, sie wären Staubwolken. Wenn Sie allein auf den Feldern waren und niemand sie sah, hopsten, hüpften und sprangen sie und versuchten, den Boden so leicht wie möglich zu berühren, und riefen: "Wir sind Staubwolken! Staubwolken! Staubwolken! "
Aber obwohl sie diese heimlichen Phantasien hatten, die ihre Eltern nicht kannten, wurden sie keine überempfindlichen, unverstandenen, missglückten Jugendlichen, die den heutigen Autoren nach typisch für diese Zeit waren. Vielleicht, weil sie einen großen Anteil Bauernblut in sich trugen, waren sie aus festerem Holz geschnitzt als manch andere. Wenn Ihre Hintern ordentlich versohlt wurden, wie das oft geschah, so reagierten sie darauf, in denen sie sich merkten, das, was ihnen die Schläge eingebracht hatte, nicht noch einmal zu tun, und sie bauten keine Komplexe auf, die sie für ihr späteres Leben unglücklich machten. Und als Laura mit etwa zwölf Jahren aus Versehen in einen Heuschober kam, wo einen Bulle seine Existenzberechtigung nachwies, trug sie keinen seelischen Schaden davon. Weder spähte sie hinter einen Heuhaufen hervor, noch stürzte sie entsetzt davon, sondern sie dachte nur mit ihrer altmodischen Art "Ach nein! Ich sollte mich besser davon machen, bevor die Männer mich sehen." Der Bulle war für sie nur ein Bulle, der tat, was nötig war, damit Butter aufs Brot kam und Brot und Milch zum Frühstück da waren, doch hielt sie es für ganz natürlich, dass Männer, die diese Aktion beaufsichtigten, lieber keine Frauen oder kleine Mädchen als Zuschauer hatten. Sie hätten sich, wie sie gesagt hätten, "etwas merkwürdig" dabei gefühlt.
Sie zog sich einfach zurück und ging einen anderen Weg, ohne dass sie im mindesten in ihrem Unterbewusstsein verstört worden wäre.
Von Beginn ihrer Schulzeit an fügten sich die zwei Kinder ganz in das Dorfleben ein, teilten Arbeit und Spiele und den Unfug ihrer jungen Kameraden und bekamen von den Älteren harte oder freundliche Worte zu hören, ganz wie es die Gelegenheit ergab. Aber obwohl sie Freuden, Einschränkungen und Mühsal mit den Dorfbewohnern teilten, so verhinderte doch eine Besonderheit ihrer geistigen Einstellung, dass sie alles, was es gab und was geschah, als Selbstverständlichkeit angesehen hätten, wie es die anderen Kinder taten. Kleine Dinge, die andere nicht beachteten, Interessierten, erfreuten und betrübten sie. Nichts, was in ihrem Umfeld geschah, übersahen sie. Wörter, die der Sprecher im nächsten Augenblick vergessen hatte, blieben ihnen im Gedächtnis, und Handlungen und Reaktionen von anderen prägten sich ihnen ein, bis ein klares, unzerstörbares Bild ihrer kleinen Welt sie ihr Leben lang begleitete.

Ihr eigenes Leben sollte sie weit von ihren Weiler fortführen. Edmund nach Südafrika, Indien, Kanada und schließlich in sein Soldatengrab in Belgien. So viel über ihre Qualifikation als Zeugenschaft. In diesem Buch werden sie nur als Beobachter und Kommentatoren zum Landleben in den frühen Jahren nach ihrer Geburt erscheinen.

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